die Suche nach dem tiefen Selbst

Franz Stangl

Franz Stangl arbeitete als Weber in Österreich. Um sich weiterzubilden, bewarb er sich bei den Behörden für eine Polizisten-Ausbildung. Obwohl er einen fürsorglichen und verständnisvollen Arbeitgeber hatte, wollte er seine Wünsche geheim halten, bis er sich seinen neuen Ausbildungsplatz gesichert hatte. Dann erst stellte er seinen Arbeitgeber vor die vollendete Tatsache. Dieser fand es bedauerlich, dass Stangl vorher nicht zu ihm gekommen war, da er ihm die Ausbildung finanziert hätte.

Dies ist der Beginn einer unglaublichen Geschichte. Was für mich daran so wichtig ist, ist das Gefühl was jeder in sich wiedererkennen kann. Wenn wir in uns einen tiefen Wunsch nach Neuem spüren, kommt oftmals ein Gefühl von Unbehagen und Angst auf, jemanden dadurch verletzen zu können. Obwohl wir wissen dass wir es ansprechen sollten, ignorieren wir dieses Gefühl und gehen manchmal gedankenlos weiter, in der Hoffnung dass es sich schon irgendwie lösen wird.

Es ist möglich, dass  das, was dann mit Franz Stangl geschah, nie passiert wäre, wenn er auf seine unbequeme innere Stimme gehört hätte, die sagte, dass sein Chef es verdient habe, rechtzeitig informiert und in die Entscheidungen mit einbezogen zu werden. Aber Stangl fällt weiterhin solche Entscheidungen wie diese, um Schwierigkeiten und Komplikationen für sich zu vermeiden.

Als er Polizist wurde, gab es in Österreich bereits die NSDAP, die illegal war. Er war gegenwärtig, wenn Nazis festgenommen und inhaftiert wurden. Schließlich marschierte Hitler in Österreich ein und Stangl vernichtete, im Einverständnis mit anderen Beamten, Papiere mit seinem Namen, so dass er bei den Nazi-Säuberungsaktionen im Polizeiheer nicht entdeckt wurde. Diese Entscheidung hatte eine noch  ernsthaftere Auswirkung auf sein zukünftiges Leben. Da er eine saubere Vergangenheit hatte und den Eindruck machte, kein Anti-Nazi zu sein, wurde er als potentieller Nazi gesehen. Ihn darauf vorzubereiten, widerwärtige Pflichten zu übernehmen, wurde er gefragt, ein Papier zu unterzeichnen, dass er bereit sei, seinen religiösen Glauben, falls nötig, zu leugnen. Er unternahm diesen für ihn scheinbar bedeutungslosen Schritt, ohne ihn mit seiner Frau zu besprechen.

Dadurch wurde er als Polizist einem Euthanasie Projekt zugeteilt, das er zu überschauen hatte. Er war nicht verantwortlich für die Tötung behinderter Kinder und Erwachsener, dafür sorgten Ärzte und Krankenschwestern. Er war jedoch dafür verantwortlich, sämtliche Nachlässe den Eltern oder Verwandten der behinderten Opfer zu überbringen.

In einem Gespräch mit Gitta Sereny wurde er gefragt, warum er die Tötung dieser behinderten Kinder und Erwachsenen nie in Frage gestellt hatte. Er verwies auf sein Recht auf Meinungsfreiheit und dass es nicht in seiner Verantwortung lag, eine Meinung zu haben. Die Entscheidungen wurden von Spezialisten getroffen. Er vermied jegliche Verantwortung die Äußerung, dass es ja andere Personen gegeben hatte, die in dieser Sache besser wussten, was es bedeute, menschlich zu handeln.

Gerade weil er so leicht zu beeinflussen war, wurde er für das nächste Nazi-Projekt auserwählt. Er wurde aufgefordert, hochrangige Nazis in Polen zu treffen und wurde schließlich zum Befehlshaber von Treblinka ernannt. Treblinka war ein Konzentrationslager in Polen, in dem Juden vergast und zu Asche verbrannt wurden. Ca. 900.000 Menschen wurden dort das Leben genommen. Nachdem diese Aufgabe erfüllt war, wurde das Lager niedergerissen. Ein Bauernhof wurde auf dem Gelände errichtet, um zu verbergen, was dort geschehen war. Inzwischen ist es eine Gedenkstätte für die Toten.

Nach dem Krieg flüchtete Stangl über Rom nach Argentinien und lebte dort 20 Jahre lang unter seinem richtigen Namen. Er wurde dann letztendlich ausfindig gemacht und einem deutschen Gericht überführt, wegen seiner Beteiligung an den Tötungen in Treblinka. Während seines Gefängnis Aufenthaltes wurde er von Gitta Sereny interviewt. In diesen Gesprächen wies er jede Verantwortung an dem Geschehen in Treblinka von sich. Für einen Moment in einem letzten Gespräch war er bereit sich einzugestehen, dass sein Leben, das er bis dahin um jeden Preis versucht hatte zu retten, rückblickend nicht lebenswert gewesen sei. Die Last, die er ertragen musste, war so immens, dass er überlegte ob sein Tod nicht besser gewesen wäre. Sereny erlebte, wie dieses Eingeständnis eine tiefe Wirkung aufFranz Stangls Seele hatte und dass diese Einsicht ihm eine gewisse Heilung verschaffte. Neunzehn Stunden nach diesem Eingeständnis verstarb er an Herzversagen.

Sereny äußert sich zu seinem Tod: „Ich glaube, er starb, weil er endlich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, seinem eigenen Selbst gegenüber stand und die Wahrheit sagte; es war eine gewaltige Anstrengung, diesen Punkt zu erreichen wo er, für einen flüchtigen Moment, der Mann wurde, der er hätte sein sollen.“

Verweise auf erwähnte Werke befinden sich hier.