die Suche nach dem tiefen Selbst

Traudl Junge

In einem langen Interview *, erzählt Traudl Junge von ihrer Kindheit und den Umständen, die dazu geführt haben, dass sie Sekretärin von Adolf Hitler wurde. Durch die Länge des Gesprächs vermittelte sie mir den Eindruck einer sehr sympathischen Person. Sie beschrieb die Erfahrungen, die sie in unmittelbarer Nähe vom Machtzentrum des Nazi-Staates hatte ohne sich des wahren Charakters der NS-Ideologie bewusst zu sein. Sie sagte, es war so, als gäbe es eine riesige Explosion in der Welt, aber im Mittelpunkt war es nicht nur still, es war auch völlig isoliert. Das rührte von daher, erklärte sie, das Schwieriges nie besprochen wurde aus Rücksicht auf Hitlers Weigerung sich mit Widerstand oder schlechten Nachrichten zu konfrontieren.

Als das Interview sich dem Ende näherte, begann Traudl Junge ihre Verantwortung in Bezug auf ihre Nazi-Vergangenheit zu erforschen. Sie beschrieb, wie ihr der Mut gefehlt hatte, sich über die Konsequenzen von Hitlers Verhalten Gedanken zu machen. Sie hätte nicht den Mut gehabt, sich einzugestehen, dass dieser allmächtige Mann doch keine große Persönlichkeit war. Sie bestätigte, dass es ihre innere Trägheit war, die ihr eine Ahnungslosigkeit über die realen Auswirkungen der Nazi-Ideologie gewährleiste.

Dann beschrieb sie wie sie in einer Pause während des Interviews an der Gedenkstätte von Sophie Scholl vorbeiging. Sophie war 22 Jahre alt, als sie starb. Sie wurde vom NS-Staat 1943 wegen ihrer Rolle in der gewaltlosen Widerstandsbewegung "Die Weiße Rose" mit dem Fallbein hingerichtet. Mit Blick auf das Datum von Sophies Tod hatte Traudl Junge eine Art Erleuchtung. Sie erkannte, dass Sophie Scholl an ihrem Tode genau so alt war, wie sie selbst es war, als sie Hitlers Sekretärin wurde. In diesem Augenblick war sie sich bewusst, dass ihre Jugend keine hinreichende Entschuldigung für ihre Unwissenheit war. Vielmehr war es die Weigerung, über das, was geschehen war, nachzudenken; eine bewusste Strategie, im Dunkeln zu bleiben, um sich vor der Schwierigkeit und Gefahr zu schützen, ein Außenseiter zu werden. Zu Beginn des Interviews sagt sie wiederholt, dass sie dumm und jung war. Am Ende des Interviews gesteht sie, dass sie dies eigentlich als Strategie gewählt hatte, um sich von dem zu distanzieren, was schließlich doch eine freie Entscheidung war.

 

* In “Blind Spot”, ein Film von Othmar Schmiderer und Andre Heller

 

Verweise auf erwähnte Werke befinden sich hier.

Image: © bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Archiv Heinrich Hoffmann